Briefe an das Leben
Ein Schreibprojekt


In ihren Händen

Tonnenschwer lag der Brief in ihren Händen. Langsam, fast zärtlich glitten ihre Finger über den Namen des Absenders. Wieder und wieder. In der Ferne spielte jemand Gitarre. „Ship of fools“, wenn sie sich richtig erinnerte. Erasure. Sie überlegte, wie lange sie dieses Lied nicht mehr gehört hatte. Es musste Jahre her sein. Wie seltsam. Warum spielte der junge Mann, der so oft an der Straßenecke seinen Gitarrenkasten aufschlug, immer ihre Lieder?

Ihr Blick suchte die Weite und fand doch wieder zurück zu dem Umschlag und zum Namen, der in feinen, säuberlichen Lettern darauf stand. Warum jetzt? Sie spürte, wie der Brief sie drängte, ihn endlich zu öffnen. Er wusste etwas, das sie nicht wusste und sie fragte sich, ob sie es wissen wollte? Alles viel zu lange her. Die Hochzeit im Kreis der Familie. Die Freunde. Das Lachen. Am nächsten Tag ging sie weg. Zog einfach von Stadt und Stadt, von Land zu Land. Am Anfang übernachtete sie auf Zeltplätzen. In diesem lächerlichen grünen Zelt, in dem sie sich immer zusammenfalten musste wie ein Schmetterling, der keinen Platz für seine Flügel findet. Irgendwann war sie sesshaft geworden. Wann war doch mal gewesen?

Sie runzelte die Stirn und blickte den Brief an. Schwer wie Blei wog er in ihren Händen. Antwortete ihr nicht. Das Zelt hatte sie schon lange eingetauscht. Doch sie blieb die Katze irgendwo an einer Ecke. Lauernd. Zuschauend. Und immer auf dem Sprung.